Feldversuche

Manchmal, gesteht Stefan Hueber, hätten sie sich zu weit aus dem Fenster gelehnt. „Die Gugumuck-Schnecken waren so ein Fall. Wiener Auster haben wir das entsprechende Gericht genannt. Kam leider nicht so gut an.“

Prinzipiell seien seine Gäste allerdings sehr aufgeschlossen. „Das hat viel mit Vertrauen zu tun.“ Es bringe ja nichts, Menschen einen bestimmten Geschmack oder irgendwelche internationalen Foodtrends aufzwingen zu wollen, schließlich sei man hier auf dem Land, oder, wie der 35-Jährige es formuliert, „einem Dorf im nowhere. Trotzdem koche ich nach dem Motto: Ohne Reibung kann nichts entstehen.“

Auf dem Land, das heißt: zwischen den Alpen und der Wachau, rund zwanzig Kilometer von Wieselburg entfernt, in St. Georgen an der Leys. 1400 Einwohner:innen, ein Supermarkt, eine Dorfkirche. Direkt daneben steht ein ehrwürdiges Haus aus „sechzehn-irgendwas“. Zehn Jahre ist es her, dass Stefan und Silvia den „gesunden Betrieb“ von seinen Eltern übernommen haben. Ein bodenständiges Dorfgasthaus sei das gewesen, erzählt der Hausherr bei Verlängertem und Zaunerstollen im Gastgarten sitzend, geführt in fünfter Generation, samt Greisslerei. Ein Ort für Taufen, Begräbnisse und alles dazwischen, vor allem sonntags.
Wobei die Geschichte natürlich früher beginnt. Für den 1988 geborenen Stefan, einen kräftigen Mann mit schwarzem Bart und braunen Augen, war immer klar, dass er mal hinterm Herd landen würde. Nach Abschluss der Tourismusschule ging es für ihn zunächst nach Lech, dann ins noble Hotel Schachner in Maria Taferl, seine, wie er sagt, vier prägendsten Jahre. Was auch daran liegen dürfte, dass er dort seine zwei Jahre jüngere Ehefrau kennenlernte. Diese Zeit des Kennenlernens darf man sich folgendermaßen vorstellen: „Im Schatten der Basilika ist alles erlaubt.“ Auch die aus Steinakirchen am Forst stammende Silvia, eine jugendlich wirkende Frau mit quellblauen Augen und dunkelblonden Locken, ist gelernte Köchin, sammelte Erfahrungen unter anderem in Zell am See und auf Kreta. Heute ist sie fürs Gastgeben zuständig.

2014 also die Übernahme. Die ersten drei Jahre seien von der Frage geprägt gewesen, was möglich sei, erst allmählich habe das Paar eine eigene Handschrift entwickelt. „Statt vorzupreschen, wollten wir mit der Region mitwachsen und auch mit unseren Gästen, welche die Chance haben sollten, unsere Vision zu verstehen“, so Stefan, auf dessen T-Shirt „Zeit für eine neue Wirtshaustradition seit 1892“ steht. Nicht immer sei das geglückt. „Ehrlich gesagt stoßen wir täglich an unsere Grenzen, genau wie jene der Gäste.“ Alle sechs Wochen wechselt die Karte, Schnitzel und Rindssuppe stehen immer darauf. Abgesehen davon aber auch Gerichte, die man in einem Dorfgasthaus nicht vermuten würde. Die zum Sauerteigbrot servierte Butter ist mit Brotmiso verfeinert, das Grillhendl mit Kimchi, die Spitzpaprika mit rotem Curry. Abgesehen davon schlägt Stefans Herz für vergessene Klassiker wie Reisfleisch. „Meine Interpretation kam mit Gerste und Schweinsgoder. Kolleg:innen fanden das toll, unsere Gäste leider nicht.“ Auf die Frage, wie er seinen Stil bezeichnen würde, antwortet der 35-Jährige: „Klassische Küche, die auf geilen Produkten basiert, puristisch, ohne übertriebenes Storytelling. Mir muss niemand erzählen, wie das Hendl auf meinem Teller heißt und was der Bauer gefrühstückt hat, zumal das oft gelogen ist. Aktuell dreht sich wieder alles in Richtung Klassik, mit wenigen überzeugenden Komponenten.“ Oder, noch mal schmackiger formuliert: „geiles Handwerk ohne Firlefanz“. Regionalität sei schön und gut, habe aber Grenzen. Glücklicherweise hat sich Stefan für den Mostviertler Schafskäse entschieden, den es eigentlich immer in irgendeiner Form gibt, über Fichtenzweigen geräuchert etwa, oder in Kombination mit Paradeiser, Melone und vegetarischer XO-Sauce.

Silvia wiederum liebt es, den Blick zum Boden gerichtet über die Wiesen und durch die Wälder der näheren Umgebung zu streifen. Giersch, Rotklee, Gänsefingerkraut, Beinwell, Holunderbeeren, Spitzwegerich, Löwenzahn, und warum nicht ein zum Frittieren gedachtes Ahornblatt? „Innerhalb einer halben Stunde habe ich ein hochwertiges Mittagessen beisammen.“ Foraging, sprich das Sammeln von Pflanzen und Kräutern, ist gerade sehr angesagt in der Foodie-Welt. Für die 1990 Geborene etwas, das sie von ihrer Großmutter und Mutter gelernt hat. Sie muss sich nicht auf Instagram mit ihrem Körbchen inszenieren, sondern macht einfach, genau wie ihr ebenfalls eher medienscheuer Partner.

„Das Mostviertel ist schon eine besondere Ecke, grob, bisweilen derb, aber auch wunderbar ehrlich. Im Gegensatz zu vielen anderen Regionen haben die Menschen hier noch Bock auf Tourismus .“

„Im eigenen Dorf ist der Prophet oft nichts wert“, seufzt Stefan, und fügt hinzu: „Wäre ich nicht so hartnäckig geblieben auf der Suche nach meiner eigenen Handschrift, hätte ich wahrscheinlich noch volleres Deckhaar.“ Seine Partnerin sieht es gelassener. „Viele Einheimische sind stolz auf ‚ihr‘ Wirtshaus, wenn sie zum Beispiel beim Reisen auf Leute treffen, die schon mal von uns gehört haben. Dabei verstehen wir uns nicht als Restaurant, weil unser Hauptmerkmal nicht die Küche ist, sondern die Gastlichkeit. Die Nachbarschaftskinder, die auf Portokasse auf eine Runde Pommes vorbeischauen, sind genauso willkommen wie der das Fünfgangmenü bestellende Nebentisch.“

Dass das direkt über dem Wirtshaus lebende Paar tief in seiner Heimatregion verwurzelt ist, zeichnet sich auch an seinen gustatorischen Vorlieben ab. Auf die Frage, was er am liebsten esse, antwortet Stefan, der beim Kochen gerne Indiebands wie Radiohead oder Jim Morrissey hört: „Mostviertler Schafskäse und Neubrucker Forelle. Obwohl ich zu einem großen Burgunder nie Nein sage, trinke ich dazu am liebsten Haselberger Most oder die Weine meines Freundes Mike Nährer.“ Reisen sei eine wichtige Inspiration. Kürzlich waren die Huebers in Lyon, heuer geht es nach Porto. In kulinarischer Erinnerung blieben das Stockholmer Frantzén und das Nürnberger Essigbrätlein. Fürs Leben geprägt hat die beiden auch eine einige Jahre zurückliegende Japanreise, der dortige Fokus aufs Handwerk und „die irre Wertschätzung von Lebensmitteln“. „Die Japaner:innen widmen sich einer einzigen Passion und bringen sie ein Leben lang zur Perfektion. Köch:innen genießen eine völlig andere Wertschätzung.“ Was passiert, wenn das Mostviertel auf den fernen Osten trifft, zeigte sich beim Mostviertler Feldversuch Street Food: Schweinsgodal, eine ordentliche Portion Ramennudeln, Mostviertler Pilze und ein wachsweiches Ei, darüber eine Debreziner-Schmalz-Sauce und hausgemachtes Brot-Shoju. So geht Ramensuppe regional gedacht. Die dürfte auch bei den Gästen gut ankommen – besser jedenfalls als Wiener Austern.