Feldversuche

Schwein gehabt

Mike Nährer weiß, was er will. Das Beste aus seiner Region rauskitzeln, dem niederösterreichischen Traisental. Es auf raffinierte, unkomplizierte Art in eine Mahlzeit verwandeln, die überrascht, verführt, aber nicht überfordert.

Zum Beispiel in Form einer „Knusprigen Sau“, einem Roggenbrotsandwich mit 24 Stunden gegartem, dann auf dem Grill knusprig gebratenem Duroc-Schweinebauch und marinierten Radieschen. Es geht aber auch abwegiger in Form von Hirn-Lollipops, Weinstein-Chips oder Dachsfleisch („jung köstlich, alt ungenießbar“). Das waren Nährers Beiträge zu den Mostviertler Feldversuchen, die er 2019 gemeinsam mit vier anderen Köch:innen ins Leben rief, mit dem Ziel, kulinarische Herausforderungen außerhalb der Wohlfühlzone zu schaffen, an spannenden Plätzen und mit ungewöhnlichen Zutaten.

Das Angenehme an diesem kernigen 42-Jährigen – geboren ist er 1982 in St. Pölten – ist, dass er am Boden geblieben ist, obwohl es schon hoch hinaus für ihn ging. 1600 Meter, um genau zu sein. Auf dieser Höhe liegt das Restaurant des mit drei Michelin-Sternen ausgezeichneten französischen Bergwiesenberserkers Marc Veyrat. An die Zeit, die er 2004 dort verbrachte, erinnert Nährer sich auch deshalb so gut, weil er, auf Empfehlung seiner Mutter, Tagebuch führte. „Sonst glaubt mir das doch hinterher keiner!“ Hummer, Hühner und Trüffel im Ton habe er dort gegart und tonnenweise Bergkräuter sortiert. Schlafdefizit inbegriffen: In einer ganzen Woche brachte er es auf gerade mal 21 Stunden. „Morgens um fünf haben wir auf 2000 Metern einen Kubikmeter Veilchen gepflückt, dann gab es zum Frühstück Rotwein und Pastete.“

Erste Erfahrungen in der gehobenen Küche sammelte er bereits um die Jahrtausendwende im Taubenkobel. Dessen damaliger Chefkoch Walter Eselböck war viel unterwegs und übertrug seine Erfahrungen auf die pannonische Küche. Das hat Nährer geprägt: „Wenn man irgendwo auf der Welt etwas Tolles sieht, hat man es oft in ähnlicher Form vor der eigenen Tür.“ Inspiration sei wichtig, müsse aber regional umsetzbar sein.

„Es bringt doch nichts, sich mit London oder New York zu vergleichen. Im Mostviertel gibt es keinen Meeresfisch, aber grenzgenialen Wels. Vor allem dessen Leber verarbeite ich gerne.“ Glücklicherweise führten ihn die Kostproben der weiten Gourmetwelt zu seinen Wurzeln zurück. Dem 150-Einwohner:innenort Rassing im Traisental, wo er nach einer weiteren Station im Landhaus Bacher 2009 das Gasthaus seiner Mutter übernahm, samt Greißlerei, Kräuter-, Wein- und Gemüsegarten. 2023 entstand aus dem ursprünglich landwirtschaftlich genutzten Gebäude gegenüber das heutige Gasthaus Nährer, mit einem gläsernen Stadel als Herzstück, ein Millionenprojekt, das nicht zuletzt ein Zeichen gegen das Wirtshaussterben setzt. Wobei die zeitgerechte Architektur immer auch zweckmäßig sein müsse, „nur schön ist zu wenig“.

In seinem Gasthaus stehen zudem regelmäßig Innereien auf der Karte, Beuschel zum Beispiel. Produkte fernab des Mainstreams, die leider oft nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient haben. „Alle reden gerade von Nose to Tail, dabei ist das nichts Neues. Wenn ich hundert Rinderfilets serviere, sollte ich mir klarmachen, dass dafür zwanzig Tiere gestorben sind. Wo ist der Rest?“
Auch Wein hat es dem 42-Jährigen angetan, und zwar in seiner ungeschönten Form. „Vergessene Gärten“ heißt der 2019 initiierte biodynamische Weinbau in Sichtweite seines Gasthauses in Rassing. „Ich wollte wissen, wie in einer so kühlen Klimaregion wie dem Traisental gewonnener Rotwein schmeckt“, so der Vater eines fünfjährigen Sohnes. „Wenn jemand sagt ‚das geht nicht‘, ist das für mich erst recht ein Ansporn.“ Vieles auf dem Markt werde zu Tode geschönt und gestriegelt. Beim selbsternannten Schutzsucher des Mostviertels hingegen darf es edgy sein, mit ungewohnten Noten. Gilt natürlich auch für seine Gerichte, von Schweinebauchsandwich bis Hirn-Lollipop.