Dort kann sie zeigen, was sie in ihren gastronomischen Wanderjahren gelernt hat – und ihre Gäste mit dem vertraut machen, was sie selbst am liebsten trinkt. Die Namensfindung für ihr erstes eigenes Business erfolgte nachts um zwei. „Capra gefiel mir nicht nur vom Klang her, sondern auch, weil Ziegen in der griechischen Mythologie als Muttertiere verehrt wurden und widerstandsfähig sind.“
Letzteres trifft auch auf die 1992 geborene Niederösterreicherin zu. Ihr Lebenslauf mit Stationen auf der ganzen Welt ist für ihr junges Alter beachtlich. Dass sie trotzdem in die alte Heimat zurückkehrte, um mit einem ungewöhnlichen Projekt in die Selbstständigkeit zu starten, ist ein Glück für die Region – und bisweilen kräftezehrend für sie selbst. Von wegen Freiheitsdrang: Schon als Jugendliche sei St. Valentin Helena Jordan zu jung gewesen, weswegen sie ins Internat nach Bad Ischl wechselte.
Nach ihrer Matura arbeitete sie ein Jahr lang in Florida, wollte danach studieren, landete stattdessen im Wiener Méridien. Bis dahin sei Gastronomie ein „Mittel zum Zweck“ gewesen, die Welt kennenzulernen. Wobei: „Die Liebe zum Wein haben mir meine Eltern mitgegeben.“ Kein Zufall also, dass sie ihre nächste Station im Restaurant Tian mit einer Sommelierausbildung verknüpfte.
Anschließend machte sie einen kurzen Ausflug in das österreichische Wein-Marketing. „Da, dachte ich, kann ich meiner Weinliebe zu Büroarbeitszeiten nachgehen. Ständig vor dem Computer zu sitzen, ging allerdings gar nicht.“ Eine wie sie, das wird schon beim ersten Kennenlernen klar, gehört in die Gastronomie, zu den Vollgasgeber:innen, Nach-vorne-Dränger:innen, den ein bisschen Verrückten.
Ihre nächste Station, das Wiener Mercado, wo sie mit Anfang zwanzig die Restaurantleitung übernahm. Endlich wieder Gläser jonglieren! Als Nächstes ging es zur Weinlese nach Südafrika, dann Backpacken durch Südamerika, wieder zur Lese nach Spanien und dann in die Schweiz.
Dank des Uccelin-Stipendiums, das der Koch Andreas Caminada vergibt, hatte sie die Wahl in einer der vier renommierten Restaurants ein Praktika zu absolvieren: im Schloss Schauenstein bei Caminada selbst, im Basler Stucki sowie in den Spitzenrestaurants Per Se und Blue Hill at Stone Barns in den USA. Haben wollten sie alle, die Wahl fiel auf Letzteres. Von New York aus ging es nach Oslo, wo sie die Restaurantleitung des mit drei Sternen ausgezeichneten Maaemo übernahm, dann in eine Cocktailbar und dann auf eine norwegische Insel. Spätestens hier stellt sich noch ein Mal die Frage, wie all das in so ein junges Leben passt – muss die Jordan‘sche Energie sein. Die Corona-Pandemie führte sie zurück nach Wien.
Erst ins Amador, dann in die Weinbar Espresso, wo sie während ihres Umwelt- und Bioressourcenmanagement-Studiums jobbte. Abgeschlossen hat sie dieses nicht, denn: Plötzlich war da dieser von ihrem Vater gestaltete Neubau in St. Valentin. Dass sie sich für dessen Übernahme anbot, war kaum mehr als eine fixe Idee, schließlich wollte sie nie zurück zu ihren Wurzeln.
2023 gab es plötzlich das Café Capra. Ein skandinavisch-schlichter Gastraum mit viel Holz und grüner Decke, dessen Tische und Bar aus jenen Holzbalken gefertigt sind, die Helenas Vater dem Vorgängerbau abluchste. „Am Anfang habe ich das angeboten, was ich selbst mag, Frühstück, easy Lunch, abends Antipasti und Wein, alles mit guten Produkten aus Österreich, maximal dem nahen Europa. Leider bevorzugt die Region Schnitzel und Grünen Veltliner.“
So richtig Fahrt nahm die Sache mit Sebastian Borbola auf, dem Linzer Küchenchef, der viele Jahre in der Hauptstadt verbrachte. Dessen Stil pendelt zwischen Österreichisch, Italienisch und Französisch, mit Tagliata und Beef Tatar als Signature Dishes. Ein bisschen Alt-Wienerisch ist auch dabei.
Gekocht wird jetzt nur noch abends, mit einer größeren Karte. „Kein Fine-Dining-Korsett“, sondern Teller, die Spaß machen. Mindestens so sehr geht es im Capra ums Glas. „Wo immer es geht, beziehe ich meine Weine direkt von den Winzer:innen oder kleinen Händler:innen.“ Super-regional ist zum Beispiel der Haselberger Birnenmost - etwas ganz Besonderes, das es nur hier im Mostviertel gibt. Abgesehen davon hat Jordan ein Herz für Frührote Veltliner, Refosco oder Menzia, eine Sorte, die man in Österreich, dem Land der auf-Nummer-sicher-Trinker:innen, kaum findet. „Für mich bedeutet Gastronomie ein Stück Kultur. So ein Ort, den ich selber gerne besuchen würde, hat hier gefehlt, dabei muss es den geben, dachte ich mir.“
Dass sie einen Nerv getroffen hat, zeigt der hohe Gästeanteil aus der oberösterreichischen Nachbarschaft, andere kommen sogar aus Wien. Für Events wie Literaturabende mit kulinarischer Begleitung oder Winzersonntage mit Verkostung. .
Oder einfach zum Essen, Trinken oder Weinflaschen shoppen, denn auch das geht im Café Capra. „Ich habe nicht nur freakige Orange Wines auf der Karte, weil ich weiß, dass das viele abschreckt. Gute Weine lösen ein Gefühl aus, arbeiten am Gaumen weiter, genau wie an meinen Emotionen.“ Oft seien das nun mal solche von biologischen Betrieben, ungeschönt und naturbelassen – aber immer frei von Dogma. Für diesen intuitiven, kenntnisreichen Zugang wurde Helena Jordan 2024 vom Rolling Pin als eine der Best 50 Sommeliers gelistet und vom Gault Millau zur Sommelière des Jahres ernannt.
„Der Titel hat mir schon geholfen, zum Beispiel dabei, Sebastian nach St. Valentin zu locken“, verrät sie schmunzelnd. Wobei sie ihm beim Kochen freie Hand lässt, und bei näherer Betrachtung haben sein klassischer Zugang und ihre Liebe zu Abseitigem doch einiges gemein: „Beides ist ehrlich.“
Inzwischen ist sie in gewisser Weise in ihrer neuen alten Heimat angekommen, auch wenn sie viel Zeit in der Hauptstadt verbringt. „Ich fühle mich wie eine Auslandsmostviertlerin, habe kein klassisches Heimatgefühl, wobei ich diesen vorurteilsfreien Blick eher als Mehrwert sehe.“ Weil ein Projekt allein nicht reicht für Helenas Energielevel, hat sie vor Kurzem mit drei anderen Frauen das Kuliktiv gegründet, darunter die Köchinnen Sandra Scheidl und Viktoria Fahringer sowie die Patissière Jaimy Reisinger.
Das Ziel: Frauen in der Gastronomie sichtbarer zu machen, Vorbild zu sein, allerdings ohne Männer auszuschließen oder das Geschlecht allzu sehr in den Vordergrund zu drängen. Lieber glänzt das Quartett zum Beispiel in Form von Events mit dem, was es kann.
Im Fall der Café-Capra-Besitzerin ist das Begeisterungsfähigkeit, Wissbegierde, den Glauben an sich selbst und ihre Visionen und Widerständigkeit. Die Ziege ist eine ziemlich gute Fighterin.